Auf dem Kutschbock des Zigeunerwagens sitzend frage ich mich, ob ich das noch an fünf weiteren Tagen spannend finden werde. Das Pferd – Linotte sei ihr Name, sagte uns der Bauer – wiegt seinen dicken Hintern mit den kräftigen Schenkeln vor dem Wagen. Im Moment bin ich erstaunlicherweise von einer euphorischen Stimmung erfasst; meine Nervenenden vibrieren und wollen mehr! Mehr Ruhe und mehr Schritt-Tempo!
Am Tag zuvor waren wir nach mehreren Stunden Autofahrt in einem kleinen Dorf in den Vogesen angekommen. So klein, dass wir es auf keiner Karte gefunden hatten. Immerhin war es dem Navigationsgerät bekannt. Aber auf solcherlei Technik werden wir in den nächsten Tagen verzichten:
Wir haben uns für eine Woche einen, wie es der Prospekt nannte, „Zigeunerwagen“ gemietet.
Zwei Varianten standen zur Auswahl. Einmal aus Holz, mit eingebauten Hochbetten und Sitzecke, das andere eine Art Planwagen, mit ausklappbarem Vordach. Unser Heim für die nächste Woche wird der „Roulette Rouge“, der rote Planwagen sein.
Als wir bei dem Wagenverleih ankommen, sehen wir ihn von weitem. Ein kauziger Angestellter des Hofes nimmt uns in Empfang und führt uns auch gleich auf eine riesige Koppel, wo wir „unser Pferd“ einfangen sollen. Auf der Weide lebt eine ganze Herde der kräftigen Vierbeiner, wie er uns auf Französisch erklärt. Wir verstehen nur die Hälfte, aber die andere können wir uns zusammenreimen. Unser Schulfranzösisch reicht zumindest, um mit ein paar Hauptwörtern und fragendem Blick zu signalisieren, wenn wir doch genauer wissen wollen, wie sich die nächsten Tage gestalten werden. Irgendwann steht sie dann vor uns. Linotte, was laut Wörterbuch „Hänfling“ bedeutet. Diesem Namen wird sie nun überhaupt nicht gerecht: Einen kräftigen Ackergaul nennt sie unser Sohn etwas flapsig, aber nicht unfreundlich. Wir schirren sie gemäß der Anweisungen des Mitarbeiters ein und wieder aus, haben dabei immer ein Augenmerk auf ihre tellergroßen Hufe, um unsere Füße nicht unter ihren wiederzufinden, wenn sie ihr Gewicht von immerhin 800 Kilogramm verlagert.
Die erste Nacht verbringen wir im roten Wagen schlafend noch auf diesem Bauernhof.
Erst am nächsten Morgen geht es nach einem Frühstück auf die Straße und damit los. Die Nacht war aufregend, schließlich schläft keiner von uns häufig im Schlafsack in einem Planwagen, während draußen die Welt in einem Gewitter unterzugehen scheint.
Jetzt also sitze ich auf dem Bock.
In den Händen die Zügel, welche über Linottes Rücken führen, einen Fuß in Nähe der Bremse, die ich bergab betätigen soll, wenn der Wagen, der genauso viel wiegt wie Linotte, auf ihren breiten Hintern auflaufen würde. Es dauert einige Kilometer und damit einhergehend mehrere Stunden, bis wir einen gemeinsamen Rhythmus finden. In der Ebene auf kleineren Nebenstraßen oder gar Feldwegen schreitet unser treues Zugpferd gemächlich voran, bergab scheint sie für mein Bremsen dankbar und stolpert nur kurz, wenn ich das Fußpedal nicht optimal auf ihren Gang abstimme. Wenn die Steigung beginnt, fängt sie an zu schwitzen und glänzt schließlich in der Sonne des Spätsommers mit durchnässtem Fell. Stetig zieht sie nach Kräften, während alle bis auf den Kutscher (meistens ich) absteigen, um die Last zu erleichtern. Irgendwann macht sie erschöpft Rast und wir grübeln, wie wir sie weiter motivieren können. Doch bevor wir zu einem Schluss kommen, schnaubt sie und zieht wieder an, mit all ihrer Kraft.
Diese treue Seele! Ich schließe sie ganz fest in mein Herz.
Die Woche wird zu einer Art Kuraufenthalt, aber gewürzt mit genau der richtigen Prise Abenteuer. Jeden Tag erwarten uns mehrere Stunden Trott, der so gar nicht unserem Alltagstrott gleicht. Abends sind wir gespannt auf den nächsten Bauernhof. Es erwarten uns ein Hund, so groß wie ein Kalb, dann wieder Hühner und Schafe, manchmal hat Linotte Pferdegesellschaft, einmal auch eine Herde Esel.
Wir sind wie aus der Welt gefallen.
Manchmal hat nicht mal das Handy Empfang – keine Nachrichten, kein Informationsdruck! Ich entschleunige meine Gedanken.
Aber nach einer Woche ist der Spuk vorbei. Wir kehren in das erste Dorf zurück und verabschieden uns mit sehr schweren Herzen und einer Träne im Augenwinkel von unserer verlässlichen Linotte. Allerdings tröstet es uns, dass sie uns nicht vermissen wird, denn sie schlendert zu ihren Gefährten hinüber und schnaubt, als habe sie uns längst vergessen.
Hintergrund-Infos:
Die Reise wird angeboten von „Renatour“, die entsprechende Tourbeschreibung findet ihr hier.
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